Mythos 2: Ein reinigendes Gewitter ist manchmal nötig

Diese These besagt, dass von Zeit zu Zeit ein „reinigendes Gewitter“ nötig sei, um Spannungen abzubauen und die soziale Beziehungen wieder zu klären. Die Rede ist dann oft davon, dass Gefühle „entladen“ werden müssten. Dabei denkt man vor allem an Ärger und Zorn. Aber hält diese weit verbreitete Alltagstheorie auch der Realität stand?

Jugendlich berichten von Situationen, in denen die innere Erregung so stark wurde, dass sie sich nicht mehr beherrschen konnten und es zu einem Gefühlsausbruch kam. Für uns von Bedeutung ist nun aber, wie sie selbst und wie andere dieses Ereignis wahrnehmen konnten. Das Abreagieren von emotionalen Erregungen wird von SchülerInnen subjektiv als Erleichterung wahrgenommen. Dies schriebe dem Verhaltensmuster „Gefühlsausbruch“ zunächst etwas Positives zu.

Entscheidend ist aber die Reaktion der Interaktionspartner, also der MitschülerInnen oder LehrerInnen. Emotionales Verhalten ist eine persönliche Stellungnahme in anders artikulierter Form. An deren Echtheit wird aufgrund der Unmittelbarkeit und Spontaneität selten gezweifelt.

Zeigen nun die MitschülerInnen oder LehrerInnen ein Verhalten, das als Nachgeben interpretiert werden kann, so steigt nach dem Lernprinzip der „operanten Konditionierung“ die Wahrscheinlichkeit für ein solches nicht kontrolliertes emotionales Auftreten. Eine sachliche Auseinandersetzung rückt dann weiter weg, die Gefahr von Gesprächsentgleisungen nimmt zu.

In der Schule wird diese Gefahr allerdings kanalisiert, wenn sich der Interaktionspartner, an dem die Gefühle abreagiert werden, in einer abhängigen Position befindet. Für SchülerInnen hätte ein ähnlich unkontrolliertes Verhalten meist mehr Nachteile als Vorteile.

Verhaltensalternativen wie etwa stummes Zuhören und Nichtreaktion erscheinen aussichtsreicher.

Bei einer solchen Konstellation ist es dann verständlich, wenn eine Ärger- oder Wutreaktion seitens einer Lehrperson als reinigendes Gewitter hochstilisiert wird, das die Atmosphäre (einseitig!) verbessert.

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Mit dieser These wird häufig ein „Staudamm-Modell“ der Gefühle beschrieben. Gefühle versteht man dabei als angestautes Wasser, das ab einer bestimmten Menge einfach überlaufen muss. Das Modell wirkt sehr anschaulich, die tatsächlichen Hintergründe sind aber wesentlich komplizierter. Der Anteil kognitiver Prozesse wird hier überhaupt nicht ernstgenommen.

In der Praxis kann beobachtet werden, dass der Verlauf der Erregung nach einer Verärgerung maßgeblich von der Hierarchie-Situation abhängig ist. Sind SchülerInnen der Meinung, der Frustrations-Auslösende stehe in der Hierarchie höher, sinkt die Erregung relativ rasch, auch wenn sie den Vorgesetzten oder Mitschüler nicht attackieren konnten. Solche Erfahrungen widerlegen die Gültigkeit eines simplen Staudamm-Modells.

Die Bedeutung eines – oft belanglosen – frustrierenden Ereignisses kann sich verändern, wenn man immer wieder damit konfrontiert wird, ohne dass eine Veränderung feststellbar ist. Beispiele dafür wären etwa eine schon wieder nicht gelöschte Tafel oder das Nichtzurückgeben ausgeborgter Gegenstände. Jedes erneute Auftreten eines solchen Ereignisses zeigt, dass der Andere „schon wieder“ die eigenen Bedürfnisse nicht berücksichtigt hat. Ausschlaggebend ist hier nicht, dass man Ärger und Wut ständig „runterschluckt“ und später in unartikulierter Form zum Ausdruck bringt. Bei einem derartigen Verhalten liegt eine Kommunikations-Störung vor, die eine Verständigung verzerrt. Besser wäre es, das Anliegen und die persönliche Bedeutsamkeit in Worten mitzuteilen, da dadurch eine deutlichere Kommunikation möglich ist.

Die Gültigkeit der Alltagstheorie vom „reinigenden Gewitter“ ist bei genauer Beobachtung nicht haltbar. Das heißt aber nicht, dass Gefühle möglichst unterdrückt werden sollten. Es ist sogar außerordentlich wichtig, auftretende Gefühle ernst zu nehmen und zu berücksichtigen. Die Erfahrung, ernst genommen zu werden und Verständnis für eigene Bedürfnisse vorzufinden, kann negative Gefühle durchaus verringern. Vor allem sollte man sich nicht scheuen, positive Gefühle wie etwa Freude über eine gelungene Einigung auszudrücken.

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